„DU HAST DEINE
TABLETTEN NICHT GENOMMEN!!!“, schreit meine Mutter am nächsten Tag
durch das ganze Haus.
Oh nein, denke ich und
verdrehe die Augen. Ich habe geträumt. Ich habe von dem Jungen von
gestern geträumt. Ich wollte nicht. Und ich habe es trotzdem getan.
Seitdem muss ich immer so doof grinsen. Und jedes mal, wenn ich mich
dabei erwische, kneife ich mich, damit ich wieder weiß, dass ich
nicht darf.
Gestern war ich allein.
Ich habe mich noch einmal umgedreht, um zu sehen, ob er mir folgt.
Aber er tat es nicht. Ich wusste nicht, ob ich darüber froh sein
sollte oder niedergeschlagen. Wahrscheinlich war es besser so, aber
irgendetwas in mir, wollte ihn ansehen, seine Stimme hören.
„Du musst deine
Tabletten nehmen“, sagt meine Mutter ernst. „Sonst wirst du
niemals wieder reden können, niemals einen Mann finden, nie
glücklich werden. Du wirst ein einsames Leben führen, wenn dein
Vater und ich irgendwann nicht mehr da sind.“
Na, frohe Weihnachten.
Was hat er bloß gestern
dort gemacht?
Wohnt er in dem Dorf?
Hat er auf jemanden
gewartet?
Ich lächle meiner
Mutter zu und gebe ihr ein Zeichen, dass ich wohin muss. Ich müsste
zur selben Zeit wieder dort sein, wie gestern. Vielleicht ist er
heute auch wieder da.
Ich renne so schnell,
dass SEINE Stimme, die mir verbietet, das zu tun, nicht hinterher
kommt.
Ich spüre, dass ich
strahle, dass ich glühe. Selbe Zeit, selber Ort.
Doch er ist nicht da.
Ich drehe mich zwei mal
im Kreis, um auf Nummer Sicher zu gehen, aber keine Spur von ihm.
Wie dumm von mir. Wie
konnte ich annehmen, dass er hier ist? An Weihnachten und kurz
nachdem ich ihn offensichtlich gezeigt habe, dass ich nicht
interessiert bin.
Ich sehe zu den Bergen,
dann zum Dorf. Es ist nur ein kleines Dorf. Es kann doch nicht so
schwer sein ihn zu finden. Also gehe ich los.
Trostlos sieht es hier
aus. Die Straßen sind verlassen. Wahrscheinlich gehen die Leute hier
erst mittags raus. Außer der Junge.
Ich suche, eine halbe,
eine ganze Stunde lang. Es ist heute kühler. Der Himmel ist nicht
mehr strahlend blau, sondern tiefgrau.
Aus irgendeinem Haus
ertönt in voller Lautstärke „Jingle Bells“, hinter jedem
Fenster ist schillernde Weihnachtsdeko zu erkennen.
Ich reibe meine Arme und
gehe weiter und dann, in einem Vorgarten, sitzt er auf einer Stufe.
Neben ihm ein Mädchen. Er sieht betrübt aus. Sie lächelt ihm
aufmunternd zu.
Sie legt ihm ihre Hand
auf die Schulter. Er lächelt auch. So ähnlich, wie er mich
angelächelt hat.
ER hat mich auch
angelächelt, wie er eine Andere angelächelt hat. ER hat sie
geküsst. ER hat gesagt, dass er mich liebt und ich, dass ich ihn
hasse. Dann war er weg.
Ich habe an jemand
anderen gedacht. Viel später. Ich habe mich schlecht gefühlt. Doch
dieser Andere ist genauso wie ER.
Und ICH werde jetzt
diesen Berg besteigen, denke ich, bevor mich das Mädchen erschrocken
ansieht. Ich beiße die Zähne fast zusammen, damit ich ihn nicht
anschreie und ich renne.
Wie kam ich bloß
darauf, dass er vielleicht etwas von mir will? Er hat gestern auf das
Mädchen gewartet und als ich kam, war er einfach nur höflich zu
mir.
Das Feld ist weit. Ich
weiß, dass er mir folgt, aber er ist wie ER, also wird er nicht mit
heraufkommen. Zu mir.
Aber eigentlich trifft
ihn ja gar keine Schuld. Er hätte mich nur nicht so ansehen dürfen.
Wir hätte sie nicht so anlächeln dürfen!
Die erste Hälfte des
Berges ist leicht. Dann verschwindet das Gras und steile Felsen ragen
vor mir auf. Trotzdem versuche ich zu klettern. Ich finde schon einen
Weg. Und wenn ich abstürze, dann macht das auch nichts. Den
schlimmsten Sturz habe ich schon hinter mir.
Ich drehe mich nicht um.
Hier oben bin ich sicher. Fast bin ich da.
Doch dann taucht er
neben mir auf.
„Du rennst viel zu
viel. Du läufst davon, aber du musst dich der Wahrheit stellen.“
Und die wäre? Dass du
eine Andere liebst?
Dass du mit mir hier
hoch gekommen bist?
Und plötzlich befinde
ich mich in der Sonne wieder. Ich habe es geschafft! Ich bin dort, wo
ich sein wollte, wo die Sonne hinkommt, wenn sie durch die Wolken
bricht. Ich sehe das, was ich sehen wollte: Ewige Felder, die Allee,
die Stadt, das Dorf.
Für IHN wäre das zu
einfach gewesen, zu eintönig, aber er sagt: „Wow.“
Ich sehe ihn an, er ist
nicht wie ER. Er ist anders, besser.
„Das Mädchen vorhin
war meine Cousine.“
Das ist erlaubt?
„Wir sind kein Paar“,
sagt er und ich merke, dass ich wieder grinsen muss.
Dann spüre ich seine
festen Lippen auf meinen. Dann ist da nur noch der Junge, nicht ER.
Ich weiß nicht, wie
lange der Kuss andauert, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit und
trotzdem ist er viel zu schnell zu Ende.
„Wollen wir hier
bleiben?“, fragt er.
Wenn ich tatsächlich
von meinen Eltern heute Abend ein Geschenk bekommen würde, so ist
mir das egal. Das Schönste sitzt gerade neben mir.
Ich nehme alles
zusammen, was ich in mir habe. Versuche den schönsten Ton zu treffen
und sage so leise wie möglich: „Ja“.
Und wie ein Wunder
segeln kleine weiße Flocken auf uns herab.
Total schöne Geschichte. Auch toll geschrieben und ich bin begeistert und in Weihnachtsstimmung. :D
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Ellen
Danke, danke, danke =D
LöschenDas freut mich wirklich sehr.
Alles Liebe
Luisa
Wirklich schön.Es ist zwar nicht wirklich überraschend, ber das hätte auch nicht zur Gechichte gepasst. :) Man kann echt noch einen Haufen hineininterpretieren:) Pass auf, dass keine armen kinder jemals diese Geschicht in Deutsch haben. Das wäre eine Verschwendung:)
AntwortenLöschenJa, ich wollte auch mal ein schönes Ende schreiben =D
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